7. Sonntag nach Trinitatis 03.08.2025 in der Johannesgemeinde
Warum werde ich nicht satt? – Vom Überfluss zur Fülle
Einleitende Worte des Predigers: Wie Sie wissen, man kann nicht immer über alles predigen. Das ging mir in der heutigen Predigt so. Es gibt am Ende noch so viel zu sagen, so viel zu bedenken und zu diskutieren. Deshalb auch gleich zu Beginn meine Einladung zum Austausch danach und in der nächsten Woche. Also, packen wir’s an.
I. Theologischer Auftakt – Das Wunder und das Wort
Das Kapitel 6 beginnt mit der bekannten Speisung der Fünftausend – ein Wunder, das mehr ist als bloße Versorgung. Jesus stillt nicht nur physischen Hunger, sondern offenbart etwas Tieferes: Er selbst ist das Brot, das der Welt Leben gibt. Dieses Wunder verweist auf die tiefe Verbindung zwischen Zeichenhandlung und Verkündigung. Es ist – evangelisch gesprochen – eine „sichtbare Predigt“: Gott schenkt Leben in Fülle. Die Menschen essen – und wollen mehr. Doch Jesus zieht die Grenze: Nicht das nächste Wunder, sondern die Beziehung zu ihm selbst macht satt.
Martin Luther deutete diese Szene als Einladung zum Glauben: nicht auf das Wunder zu schauen, sondern auf den Geber. Nicht das Brot allein ist das Ziel, sondern der, der es bricht. Und Dietrich Bonhoeffer schrieb einmal sinngemäß: Christus ist nicht gekommen, um unsere Wünsche zu erfüllen, sondern um uns neue Wünsche zu schenken.
Unsere Wünsche, liebe Gemeinde, unseren Hunger nach MEHR kann nämlich niemand erfüllen.
II. Der moderne Hunger: „Warum werde ich nicht satt?“
Es gibt da diesen Satz aus einem Lied der deutschen Rockband Die Toten Hosen, schon ein paar Jahre alt, aber immer noch aktuell. Campino singt:
„Warum werde ich nicht satt?“
Und das mitten in einer Welt des Überflusses. In dem Lied zählt er auf, was er alles hat: Geld, Freunde, Ruhm – und trotzdem bleibt diese bohrende Frage stehen.
Die meisten Menschen werden einfach nicht satt – nicht nach drei Gängen, zwei Gläsern Wein und hundert Likes. Und wenn sie morgens im Spiegel stehen, sehen sie nicht Erfüllung, sondern Erschöpfung. Und der Hunger bleibt.
Dabei leben wir – objektiv gesehen – wie Könige. Der britische Comedian Jimmy Carr hat das kürzlich so beschrieben:
„Man gewöhnt sich ziemlich schnell daran, wie gut das eigene Leben eigentlich ist. Mein Freund hat mir einmal geraten: Wenn du unter der heißen Dusche stehst – dann denk einen Moment lang daran, dass niemand, den du aus der Geschichte bewunderst, dieses einfache, tägliche Vergnügen hatte. Nicht Luther. Nicht Kant. Nicht Dietrich Bonhoeffer. Nicht mal deine Urgroßeltern. KEINER HATTE EINE WARME DUSCHE.“
Und wenn man sich das einmal klarmacht – dann lebt unsere Generation wie Könige. Es gab in der Geschichte insgesamt etwa 100 Milliarden Menschen auf dieser Erde, und wir gehören zu dem obersten Prozent, was Glück, Gesundheit, Sicherheit und Kalorienzufuhr betrifft. Unsere Kinder überleben die ersten Lebensjahre. Wir haben Zugang zu medizinischer Versorgung, Schulbildung, Heizungen, Kaffeevollautomaten, WLAN und Netflix und eine heiße Dusche und ein WC im Haus.
Und trotzdem – und jetzt wird’s paradox – war das Leben noch nie objektiv besser… und subjektiv so schwer zu ertragen.
Warum? Weil unsere Wünsche nicht aus uns selbst kommen. Sie sind memetisch – also nachahmend und evolutionär. Wir wollen, was andere wollen. Wir vergleichen uns permanent. Und wir machen uns Sorgen.
Unser Glück ist letztlich: Lebensqualität minus Neid und Sorge.
Und genau da liegt das Problem: Wenn du immer nur auf die anderen schaust – auf ihr schöneres Haus, ihren fitteren Körper, ihre klügeren Kinder, ihren Urlaub in Queensland – dann verpasst du den Reichtum deines eigenen Lebens. Das Resultat? Wir werden unzufrieden, ja sogar verbittert.
Die heiße Dusche hat einen Preis. Nicht finanziell – sondern seelisch. Vielleicht ist das Leben zu bequem geworden. Vielleicht sind wir in einer Komfortkrise gelandet.
Es klingt hart, aber: Wir haben alles, was wir zum Leben brauchen – und trotzdem fehlt vielen der Sinn. Vielleicht, weil wir Brot genug haben, aber keine Nahrung für die Seele. Selbstverständlich liegt es auch daran, dass wir wissen, all dieses kann schnell wieder vorbei sein. Was wir haben, bleibt nicht.
Die Ironie an dieser Sache ist es, dass es etwa 10% der Weltbevölkerung so geht. Die, die in Ländern wie Deutschland und Australien leben. Der Rest der Welt weiß noch ganz genau, was körperlicher Hunger bedeutet. Was es bedeutet, Kindern nicht genug zu essen geben zu können. Was echter Hunger bedeutet.
III. Die Sehnsucht hinter dem Überfluss
Wir leben in einer Welt voller Möglichkeiten. Amazon liefert über Nacht, der Kühlschrank ist voll, Streamingdienste rund um die Uhr. Und trotzdem: Viele Menschen verspüren diesen inneren Hunger. Gotthold Ephraim Lessing hat das einmal anders, fast poetisch formuliert:
„Lebe, bis du satt geküsst und des Trinkens müde bist.“
Und manche jagen genau das: Genuss bis zur Sättigung, Erlebnisse bis zum Rausch. Aber seien wir ehrlich: Die Leere danach kennen auch wir alle. Nach dem vollen Teller kommt oft der fade Beigeschmack. Nach der durchfeierten Nacht das flaue Gefühl. Nach dem Scrollen durch Instagram – ein stilles Seufzen: Und jetzt?
IV. Christus – Das Brot, das nicht nur stillt, sondern erfüllt
In diese Welt hinein spricht Jesus diesen einen Satz – mitten in Johannes 6:
„Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, wird nicht hungern.“
Nicht: Ich bin der Sekt des Lebens. Oder der Rausch. Oder das nächste Kickangebot. Nein: Brot. Einfach. Nahrhaft. Lebensnotwendig.
Jesus verspricht keine Reizüberflutung. Er verspricht Halt. Kein Übermaß – sondern Erfüllung.
V. Anwendung – Glaube im Alltag
Was heißt das für uns – für unseren Alltag? Wie schafft der das besser als Netflix das kann?
Vielleicht: Nicht mehr hetzen – sondern horchen. Nicht mehr konsumieren – sondern mehr vertrauen. Nicht vergleichen – sondern teilen. Über all dies spricht Jesus immer wieder schon vor langer Zeit.
Konfirmandinnen und Konfirmanden wurden einmal mit Fragebogen in den Gottesdienst geschickt. Eine der Fragen lautete: Was erwarten Menschen von der Kirche? Die häufigste Antwort: Dass sie ehrlich ist. Dass jemand die Fragen stellt, die sonst niemand stellt:
- Warum werde ich nicht satt?
- Was fehlt mir wirklich?
- Und: Wer füllt das Loch, das kein Produkt stopfen kann?
Im Gottesdienst – so glaube ich – dürfen wir lernen, wieder zu schmecken. Nicht Fastfood für die Seele, sondern das echte Brot, das trägt. Christus gibt nicht sofort, was wir wollen – aber immer, was wir brauchen.
VI. Abschluss – Einladung zur echten Mahlzeit
Und genau das feiern wir gleich – im Abendmahl. Nur ein Stück Brot. Ein Schluck Wein. Und doch: Mehr als genug. Denn es ist das Mahl, das uns erinnert: Du bist gewollt. Geliebt. Und eingeladen – satt zu werden.
Vielleicht sagen Sie nachher leise: „Heute war’s nicht spektakulär – aber es hat gutgetan.“ Dann war’s: Evangelium.
Oder um’s mit einem Augenzwinkern zu sagen: Wer satt vom Glauben lebt, kann sogar großzügig teilen – und hat immer noch genug für morgen.
Wenn Christus uns satt macht – dann ist das kein Privatbesitz, sondern eine Einladung zum Teilen. Denn während ein Teil der Welt sich über zu viel Auswahl im Supermarkt beklagt, lebt der Großteil der Menschheit mit ganz anderem Hunger: mit leerem Magen, mit unsicherer Nahrungslage, mit existenziellen Sorgen. Das ist kein Versorgungsproblem – das ist ein Verteilungsproblem.
Als Christinnen und Christen glauben wir an einen Gott, der Brot nicht hortet, sondern bricht. Der sich selbst verschenkt – und dadurch Leben möglich macht. Wir sind berufen, diesen Hunger zu stillen. Nicht symbolisch. Nicht theoretisch. Sondern konkret. Es ist eine steile These – aber ich meine sie ernst: Die Kirche Jesu Christi ist berufen, jedem Menschen auf dieser Erde das tägliche Brot zu ermöglichen. Nicht durch eigene Kraft, sondern durch geteilte Hoffnung, durch gelebte Barmherzigkeit, durch politische Verantwortung und ganz praktische Solidarität.
Denn wer vom Brot des Lebens lebt, der kann nicht gleichgültig bleiben gegenüber dem leeren Teller seines Nächsten.
So spricht Jesus heute zu uns: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten. (Johannes 6,35)
Amen.



